Rückblick Lichtenberger Register: Antisemitische Vorfälle in Lichtenberg zwischen 2012-2022
*Hinweis zur Grafik der Vorfallsmeldungen: Die Daten werden zum Ende des Jahres mit den Kooperationspartner*innen des Lichtenberger Register: RIAS und ReachOut abgeglichen und ergänzt. Somit können noch keine Rückschlüsse für das laufende Jahr 2022 gezogen werden.
Anlässlich der “Lichtenberger Aktionswochen gegen Antisemitismus”, die von Oktober bis Dezember 2022 stattfinden, möchten wir als Lichtenberger Registerstelle einen Blick auf unsere Erfassung antisemitischer Vorfälle in den vergangenen 10 Jahren werfen.
Überblick über die erfassten Daten
Antisemitische Vorfälle werden im Vergleich zu anderen Meldungen in Lichtenberg nur selten gemeldet und erfasst. Zwischen 2012 und Oktober 2022 wurden insgesamt 83 antisemitische Vorfälle dokumentiert. Im Vergleich zu etwa 2.600 Gesamtvorfällen der letzten zehn Jahre in Lichtenberg, macht dies nur einen sehr kleinen Anteil aus. Für die vergleichsweise niedrigen Vorfallszahlen lassen sich verschiedene Gründe aufführen. Neben einer potenziell geringen Meldequote stellt die (Un)Sichtbarkeit von jüdischem Leben in Lichtenberg, sowie Überschneidungen mit den Kategorien NS-Verherrlichung sowie extrem rechte Selbstdarstellung, Erklärungsmöglichkeiten dar. Die gemeldeten antisemitischen Vorfälle zeichnen sich oft durch eine besondere Gewaltverherrlichung gegenüber Jüdinnen*Juden aus. Dabei stellt die Referenz zu nationalsozialistischen Symbolen und zur Shoah eine Besonderheit der Meldungen dar.
Erfassung und Kategorisierung der Daten
Die hier vorgestellten Vorfälle wurden alle unter dem Hauptmotiv des Antisemitismus in die Chronik aufgenommen. Hakenkreuz-Schmierereien, "Sieg Heil"-Rufe oder Hitlergrüße, die in Lichtenberg in großem Maße gemeldet werden, erfassen wir unter der Kategorie: "Verherrlichung oder Verharmlosung des Nationalsozialismus". Im Zuge der Coronapandemie, wurde ebenfalls ein großer Anteil an Verschwörungserzählungen gemeldet. Diese werden nur aufgenommen, wenn sie einen explizit antisemitischen Bezug aufweisen.
Antisemitische Vorfälle im Detail
Der Großteil der antisemitischen Vorfälle geht auf Propagandameldungen (52 Vorfälle) wie Schmierereien und Sticker zurück. Hierunter fallen beispielsweise Graffiti mit Davidstern die Orte markieren oder israelfeindliche Stickerserien der extrem rechten Kleinstpartei „III. Weg“. Es lässt sich festhalten, dass der Großteil der antisemitischen Propagandavorfälle an zufällig gewählten Orten zu finden ist, die nicht in einer unmittelbaren Referenz zu jüdischem Leben stehen. Gleichzeitig muss jedoch an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass auch vereinzelt Graffiti mit Davidstern oder Schriftzüge mit „Juden“ in unmittelbarer Nähe zu jüdischen Wohn-, und Arbeitsorten gemeldet wurden.
Jüdische Gedenkorte wurden in den vergangenen Jahren mindestens zweimal angegriffen. Im Mai 2021 wurde der Gedenkstein an die ehemalige Synagoge in Alt-Hohenschönhausen mit grüner Farbe übergossen, im Dezember 2021 wurde der Chanukka-Leuchter vor dem Rathaus Lichtenberg zerstört. Der Brandanschlag auf eine Kneipe in der Hagenstraße im August 2020 verursachte auch überbezirklich Entsetzen und sorgte für Unsicherheit bei der jüdischen Community. Der jüdische Kneipenbesitzer wurde in der Vergangenheit mehrfach von Neonazis bedroht. An der verrußten Tür wurde ein Davidstern und das Zahlenkürzel „28“ hinterlassen, das als Chiffre für die verbotene Neonaziorganisation „Blood & Honour“ genutzt wird.
Immer wieder kommt es zu brutalen Angriffen auf Personen, die als jüdisch identifiziert werden. Im vergangenen Jahr wurden ein Mann und eine Frau an der eigenen Wohnungstür in Karlshorst bedroht. Der angreifende Mann fragte mit einem Messer, ob sie Juden seien und versuchte in die Wohnung zu gelangen. Der Wohnungsinhaber konnte den Angreifer glücklicherweise zurückdrängen. 2021 kam es zu weiteren antisemitischen Angriffen und Bedrohungen. Am S-Bahnhof Nöldnerplatz wurde ein Mann zunächst gefragt, ob er Jude sei und kurz darauf mit Reizgas attackiert und zu Boden gestoßen . In der U5 Höhe Friedrichsfelde bedrohte eine Gruppe von Neonazis, Fahrgäste mit antisemitischen Äußerungen. Zuvor zeigte ein Gruppenmitglied seine extrem rechten Tattoos, wie einen tätowierten Reichsadler mit Hakenkreuz. Im Mai 2021 wurde am Bahnhof Lichtenberg eine Frau mit Davidsternkette mit „Juden raus“ antisemitisch beleidigt.
Anhand der gemeldeten Vorfälle kann gezeigt werden, dass Täter und Betroffene sich in den meisten Fällen nicht kennen. Eine vermeintliche jüdische Zugehörigkeit wird von Tätern dabei aggressiv erfragt, oder durch beispielsweise jüdische Symbole auf Schmuck oder Kleidung angenommen. Dabei ist es besonders auffällig, dass es im öffentlichen Nahverkehr immer wieder zu Angriffen oder Bedrohungen kommt. Das der öffentliche Nahverkehr ein potentiell gefährlicher für Ort für marginalisierte Personen sein kann, lässt sich auch an rassistischen Vorfallsmeldungen in Bus, Bahn und Tram zeigen. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass Vorfälle über den gesamten Bezirk verteilt stattfinden und sich kaum auf bestimmte Stadtteile oder Kieze fokussieren lassen.
Antisemitische Vorfallsmeldungen im Kontext der Corona-Mobilisierungen
Im Zuge der Corona-Mobilisierung kann ein deutlicher Anstieg an Vorfallsmeldungen - vor allem im Jahr 2021 - beobachtet werden. Den größten Zuwachs an Meldung findet sich im Bereich der Propagandameldung wieder. Ein Anstieg lässt sich auch im Bereich der Beleidigungen, Bedrohungen und Pöbeleien mit vier Meldungen, und im Bereich der Angriffe mit drei Vorfälle wiederfinden. Verschwörungserzählungen wie QAnon oder die antisemitisch gefärbte Verschwörungsideologie „New World Order“ wirken nicht nur in die extreme Rechte ein, sondern lassen sich auch in weiteren Teilen der Gesellschaft finden. Auch werden Vergleiche zwischen den Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie mit dem Nationalsozialismus und der Shoah gezogen. Pöbeleien, dass die Situation “wieder wie 1933” sei, Schmierereien und Sticker sowie selbstgebastelte Schilder werden gehäuft gemeldet.
Wichtige Formen und Akteur*innen des Antisemitismus in Lichtenberg
Die Daten aus der Chronik zeigen, dass in den vergangen zehn Jahren im Bezirk Lichtenberg der Großteil der antisemitischen Vorfälle auf die extreme Rechte zurückzuführen ist. Dies zeigt sich nicht nur Stickern, die von der organisierten Rechten kommen, sondern auch bei den Angriffen bei dem die Täter Symbole, Kleidung oder Tattoos der extremen Rechten tragen. Ein über die Jahre wiederkehrender Ort von Meldungen ist außerdem der Kontext Fußball: Hier werden gegnerische Sticker mit Judenstern markiert, Fangesänge machen jüdische Überlebende des Holocaust verächtlich.
Darüber hinaus wurden zahlreiche Vorfälle von antisemitischen Angriffen und Beleidigungen, Bedrohungen und Pöbeleien erfasst, die nicht der organisierten Rechten zuzuordnen sind. Dies unterstreicht einmal die Bandbreite von antisemitischer Diskriminierung und Gewalt, andererseits auch die weite Verbreitung von Antisemitismus auch jenseits der extremen Rechten.