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10.10.2022 Koordinierung der Berliner Register

Berlin im Jahr 2021 - Die Pandemie ist nicht vorbei


Balkendiagramm der Anzahl der Registervorfälle pro Jahr von 2014 bis 2021. Es startet mit dem Jahr 2014 mit 1094 Vorfällen und steigt bis auf 4841 im Jahr 2021 an.

Im Jahr 2021 wurden in der gesamten Stadt fast 5000 Vorfälle dokumentiert. Das sind ca. 1000 Vorfälle mehr als im vorherigen Jahr. Aus den erfassten Vorfällen gehen zwei Entwicklungen hervor, die bereits 2020 zu erkennen waren und sich 2021 weiterentwickelt haben. Zum einen trugen Protestaktionen und Propagandavorfälle im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zum Anstieg der Vorfallszahlen bei und zum anderen nahm die Zahl der Menschen zu, die im Jahr 2021 zum ersten Mal einen Vorfall meldeten. Auch der Austausch von Fallzahlen mit verschiedenen neuen Beratungsstellen aus der Antidiskriminierungsarbeit trug zum Anstieg der Vorfälle bei.

Was wir aus den letzten Jahren wissen

Wenn man sich die Registervorfälle ansieht, gleicht kein Bezirk dem anderen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Anzahl – die Spanne der dokumentierten Vorfälle reicht von ca. 100 bis über 700 Vorfälle pro Jahr und Bezirk. Die Verteilung der Vorfälle unterscheidet sich je nach Bezirk auf bestimmte Arten. Dabei macht Propaganda einen Großteil der Vorfälle in allen Bezirken aus, berlinweit sind es 60 Prozent. Hinsichtlich der Gewalttaten, der dokumentieren Veranstaltungen und der Zahl der Propagandafälle unterscheiden sich die Bezirke deutlich voneinander. Bei den inhaltlichen Schwerpunkten hingegen liegen die Bezirke dicht beieinander, weil sie stark von der inhaltlichen Ausrichtung der Propagandavorfälle geprägt sind. Zum Beispiel haben im Wahlkampf alle Bezirke einen Anstieg in der Kategorie „Rechte Selbstdarstellung“ zu verzeichnen. Zudem ist Rassismus seit vielen Jahren in fast allen Bezirken das Motiv mit den meisten Vorfällen. Dabei verzeichnen Bezirke, die ohnehin schon viele Vorfälle erfasst haben, mehr Gewaltvorfälle als andere.

Es wird eine Berlin-Karte mit den Bezirken angezeigt. Auf den Ortsteilen sind Balken mit der Anzahl der Vorfälle für die Jahre 2020 und 2021 zu sehen. Die Anzahl der Vorfälle in Berlin ist von 3822 im Jahr 2020 auf 4841 im Jahr 2021 gestiegen. Die meisten Vorfälle hat demnach der Bezirk Mitte mit 744, im Vorjahr 645. Es folgen Lichtenberg mit 732, im Vorjahr 421, Friedrichshain-Kreuzberg mit 489, im Vorjahr 345, Treptow-Köpenick mit 387, im Vorjahr 329, Neukölln mit 354, im Vorjahr 236, Pankow mit 343 Vorfällen, im Vorjahr 248, Charlottenburg-Wilmersdorf mit 292 Vorfällen, im Vorjahr 276, Marzahn-Hellersdorf mit 241, im Vorjahr 252, Tempelhof-Schöneberg mit 164 Vorfällen, im Jahr davor 132, Steglitz-Zehlendorf mit 133 Vorfällen, im Vorjahr 147, Spandau mit112 Vorfällen, im Vorjahr 98 und den Abschluss bildet Reinickendorf mit 97 Vorfällen, im Vorjahr war es einer mehr mit 98.    Vorfälle bei denen der Bezirk unbekannt blieb oder irrelevant war, wurden 753 im Jahr 2021 erfasst. Hierbei fanden 560 dieser Vorfälle im Internet statt. 2020 waren es 631 berlinweite Vorfälle, von denen 497 online stattfanden.

Warum unterscheiden sich die Bezirke so stark?

Die Berliner Stadtbezirke unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Sozial- und Infrastruktur, ihrer Bevölkerungszusammensetzung und -dichte, in Bezug auf die Anteile von Wohn-, Gewerbe- und Grünflächen, in ihren Verkehrswegen, ihren Sehenswürdigkeiten, ihrer politischen Zusammensetzung, ihren ehrenamtlich und lokal engagierten Menschen u.v.m. Diese Merkmale beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sondern wirken sich auch auf die Anzahl und Zusammensetzung der dokumentierten Registervorfälle in einem Bezirk aus. Rand- und Innenstadtbezirke unterscheiden sich in ihrer Bevölkerungsdichte. Je dünner eine Region besiedelt ist, desto weniger Vorfälle werden von dort gemeldet und je stärker ein Ort von Menschen frequentiert wird, desto häufiger wird ein Vorfall wahrgenommen und an die Registerstelle weitergeleitet. Dies gilt insbesondere für die lokalen Zentren, zum Beispiel der Altstadt Spandau, der Schloßstraße in Steglitz oder dem Boxhagener Platz in Friedrichshain. Aber auch Verkehrsknotenpunkte des öffentlichen Nahverkehrs weisen mehr Vorfälle auf. Die Bahnhöfe Neukölln, Hermannstraße, Friedrichstraße, Warschauer Straße, Frankfurter Allee, Ostkreuz, Schönhauser Allee, Zoologischer Garten und Alexanderplatz sind Orte, von denen monatlich Vorfälle gemeldet werden. Dort treffen viele Menschen aufeinander, die von der Arbeit, von einer Shoppingtour, einer Demonstration oder einer Party kommen. Dadurch bieten sich für gewaltbereite Personen mit menschenfeindlichen Einstellungen viele Gelegenheiten, um andere zu bedrohen, zu beleidigen und anzugreifen. Auch Aufkleber und Parolen werden besonders gern an Orten angebracht, wo mit Publikumsverkehr zu rechnen ist. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Nord-Neukölln. Die drei Bezirke bzw. Ortsteile oder Kieze führen die Statistik der Angriffszahlen an. Hierfür ist nicht allein eine organisierte rechte Szene verantwortlich, sondern es sind überwiegend Gelegenheitstaten, wie rassistische und LGBTIQ*-feindliche Beleidigungen und Angriffe, die von Gelegenheitstäter*innen verübt werden. Um die organisierte extreme Rechte in Berlin ausfindig zu machen, muss der Blick auf Propagandavorfälle, Veranstaltungen, Bedrohungen gegen politische Gegner*innen sowie auf Sachbeschädigungen gerichtet werden. Hier sind die Ortsteile Adlershof, Niederschöneweide und Rudow auffällig.

Zu guter Letzt ist eine engagierte demokratische Zivilgesellschaft eine wichtige Voraussetzung für die Meldung von Vorfällen. Denn Vorfälle werden nur dann gemeldet, wenn sie als störend empfunden werden, um der eigenen Betroffenheit Ausdruck zu geben und auch nur dann, wenn die Arbeit der Registerstellen bekannt ist. Lokale Netzwerke, die sich für die Themenfelder Rassismus, Antisemitismus, LGBTIQ*-Feindlichkeit oder die extreme Rechte interessieren und aktiv dagegen vorgehen, melden viel häufiger Registervorfälle als solche, die sich mit anderen Themen beschäftigen. Auch die Anlaufstellen spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sind vielleicht nicht unbedingt die Orte, an denen Vorfälle gemeldet werden, aber durch die Werbung, die sie machen und die Menschen, mit denen sie ins Gespräch kommen, werden die Registerstellen bekannter. Regionen, in denen es weder engagierte Einzelpersonen noch lokale Initiativen gibt, sind blinde Flecken für die Register. Auch diese Orte gibt es in Berlin. Zu ihnen gehören Einfamilienhaussiedlungen oder dünn besiedelte Randgebiete. Dieser Hintergrund wird bei der Interpretation der Vorfälle berücksichtigt.

Entwicklungen in der Corona-Pandemie

Vorfälle, die im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie stehen, prägen das Bild. In den Themenfeldern Antisemitismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus, der Selbstdarstellung extrem rechter Gruppierungen und der Angriffe gegen politische Gegner*innen sind deshalb deutliche Zuwächse zu verzeichnen. Corona-Leugner*innen und jene, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie kritisierten, verglichen Personen, Strukturen und Maßnahmen mit dem Nationalsozialismus, z. T. wähnten sie sich in der Rolle verfolgter Jüd*innen während des Holocaust. Spekulationen über Verursachende und Profitierende dieser Pandemie waren der Nährboden für Verschwörungserzählungen, die neben einer Skepsis gegenüber Medien und Politik vor allem antisemitische Stereotype wieder gesellschaftsfähig machten.

Wie das Vorjahr war das Jahr 2021 ebenso von der Corona-Pandemie und damit verbundenen Effekten auf das öffentliche Leben geprägt. Die Verfügbarkeit der Schutzimpfung seit Anfang 2021 weckte zunächst die Hoffnung auf ein schnelles Ende, bis mit der aufkommenden Delta-Variante die Gewissheit folgte, dass die Ein-schränkungen noch länger nötig sein würden.

Das öffentliche Leben fand phasenweise nur stark eingeschränkt statt: Maskenpflicht an vielen Orten, Homeoffice, Fernunterricht statt Schule, geschlossene Clubs und Bars, während Kunst- und Kulturschaffende versuchten, sich online oder draußen neu zu erfinden. Die Maßnahmen, die zum Schutz vor der Ausbreitung der Infektion eingeführt wurden, wurden durch Proteste begleitet, an denen sich viele Menschen - Spektren übergreifend - beteiligten. Während 2020 deutlich wurde, dass die extreme Rechte diese Proteste instrumentalisiert hatte, um die Inhalte und Aktionsformen zu radikalisieren, war das Jahr 2021 davon bestimmt, dass sich verschwörungsideologische Erzählungen bei den Protestierenden verfestigten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es protestierende Gruppierungen gab, die sich explizit von der extremen Rechten distanzierten. Desinformationskampagnen auf Social-Media-Kanälen trugen erheblich zur Verfestigung von Impfkritik und Verschwörungsglauben bei. Die Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurde nur dann von den Registern als Vorfall erfasst, wenn sie als Selbstdarstellung extrem rechter Organisationen, Leugnung oder Verharmlosung des Nationalsozialismus, als Gleichsetzung mit dem Holocaust oder mit antisemitischen Verschwörungserzählungen einherging.

Besonders stark ist der Anstieg antisemitischer Vorfälle, wobei es sich hier nicht nur um antisemitische Verschwörungserzählungen bezüglich der Pandemie handelte. Auch gewalttätige Konflikte in Israel, die öffentliche Diskussion um Gil Ofarim, die Sichtbarkeit von jüdischen Symbolen, wie Chanukka-Leuchter oder das Verwenden der hebräischen Sprache, führten in verschiedenen Bezirken und auch online zu antisemitischen Taten. Auffällig im Vergleich zu anderen Motiven, die von den Re-gistern erfasst werden, ist der hohe Anteil an antisemitischen Vorfällen, die im Internet stattfinden (2021: 540; 2020: 475). Seit Jahren erhalten jüdische und israeli-sche Menschen und Einrichtungen antisemitische E-Mails und Kommentare. Je stärker jüdische Perspektiven sichtbar werden, desto heftiger werden sie angegriffen. Die Auswertung der antisemitischen Vorfälle durch RIAS-Berlin (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) ist auf dieser Seite unten zu finden.

Anstieg um 1000 Vorfälle

Seit fünf Jahren gibt es in allen Berliner Bezirken Registerstellen und die Zahl der dokumentierten Vorfälle war mit 4841 noch nie so hoch wie im Jahr 2021. Die Zunahme ist in den Kategorien Propaganda (2021: 2951; 2020: 2234), strukturelle Benachteiligung (2021: 398; 2020: 147) und Beleidigungen, Bedrohungen, Pöbeleien zu finden (2021: 732; 2020: 632). Die meisten Vorfälle wurden in den inhaltlichen Kategorien Rassismus (2021: 1428; 2020: 1306) und Antisemitismus (2021: 1043; 2020: 774) erfasst. Der Anstieg der Vorfälle über die Jahre bedeutet nicht zwingend, dass mehr passiert, sondern kann darauf hinweisen, dass ein Teil der Vorfälle, die früher im Dunkelfeld lagen, heute gemeldet werden.

Propaganda: Einzelpersonen und Wahlkampf verantwortlich für Anstieg

Wie oben erläutert, gab es 2021 einen Anstieg der Propagandavorfälle. In einigen Regionen wurden massenhaft Aufkleber geklebt, Parolen gesprüht und Flugblätter der extrem rechten Kleinstpartei „Der III. Weg“ verteilt. Den größten Zuwachs innerhalb der Propagandavorfälle verzeichneten die inhaltlichen Kategorien extrem rechte Selbstdarstellung (2021: 710; 2020: 421), Antisemitismus (2021: 753; 2020: 558), politische*r Gegner*in (2021: 400; 2020: 282) und NS-Verharmlosung (2021: 536; 2020: 464). Viele dieser Propagandavorfälle standen im Zusammenhang mit der Pandemie. Ortsteile, die im Vorjahr bereits durch viel Propaganda belastet waren und 2021 einen weiteren, deutlichen Anstieg verzeichneten, waren: Lichtenberg-Mitte, Lichtenberg-Nord, die Straßen um den Boxhagener Platz und Nord-Neukölln. In Lichtenberg, Friedrichshain und Nord-Neukölln wird davon ausgegangen, dass es sich um Einzelpersonen handelte, die täglich Aufkleber, Parolen und Symbole wie Hakenkreuze anbrachten. Diese wurden auch täglich entfernt und über vereinfachte Meldemöglichkeiten an die Register weitergeleitet. Im Ortsteil Mitte finden die meisten Demonstrationen und Kundgebungen statt. Auf dem Hinweg, dem Rückweg und während solcher Veranstaltungen werden Aufkleber und Parolen angebracht. Es gibt zudem touristische Attraktionen und Umsteigebahnhöfe. Dadurch ist Mitte für sendungsbewusste Akteur*innen der extremen Rechten ein beliebter Bezirk für das Verbreiten von Propaganda.

Das Wahljahr 2021 ist ein weiterer Hintergrund für den Anstieg der Propagandavorfälle. Die Wahl zum Abgeordnetenhaus und die Bundestagswahl führten dazu, dass extrem rechte Parteien mit Flugblättern und Wurfsendungen für ihre Inhalte warben. Die Partei „Der III. Weg“ trat nicht zu den Wahlen an, führte aber trotzdem Infostände während des Wahlkampfs durch und verteilte Flugblätter in Wohnsiedlungen.

Eine Auswertung der Aktivitäten der NPD und der Partei „Der III. Weg“ von 2017 bis 2021 zeigt, dass die Propagandaaktivitäten der NPD stark nachgelassen haben. Lediglich in Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln ist im Wahlkampfjahr ein Zuwachs der Vorfälle, in denen die NPD eine Rolle gespielt hat, zu sehen. In Bezug auf die Aktivitäten der Partei „Der III. Weg“, steigen die Fallzahlen in allen Ostberliner Randbezirken sowie in Neukölln, Spandau und Tempelhof-Schöneberg. Es hat den Anschein, als hätten sich Teile des aktionsorientierten Neonazi-Spektrums aus Berlin von der NPD abgewandt und dem „III. Weg“ angeschlossen.

Mehr Beratungsangebote, mehr Sichtbarkeit, mehr Vorfälle

Der Anstieg an Vorfällen struktureller Benachteiligung und von Beleidigungen, Bedrohungen und Pöbeleien ist darauf zurückzuführen, dass mehr Menschen diese Vorfälle melden.

Unter struktureller Benachteiligung werden Vorfälle erfasst, die Diskriminierungen auf dem Wohnungs-, Bildungs-, Arbeitsmarkt, im Gesundheitssystem sowie in Ämtern und Behörden betreffen. Es geht in diesen Fällen um rassistisch motiviertes Mobbing durch Vermieter*innen oder in der Schule, die Verweigerung von Unter-stützungsleistungen durch Sozialämter, Jobcenter oder das Jugendamt. Menschen werden bei der ohnehin schwierigen Wohnungssuche in Berlin benachteiligt. Hin-zu kommen rassistische Polizeikontrollen (Racial Profiling) auf der Straße oder durch Sicherheitsmitarbeiter*innen in Bahnen und Bahnhöfen, bei denen gezielt Schwarze Menschen und People of Color im öffentlichen Raum kontrolliert werden, weil ihnen Straftaten unterstellt werden. Der Großteil dieser Vorfälle wird anonymisiert aus den Antidiskriminierungs-Beratungsstellen an die Register übermittelt. Au-ßerdem melden sich Menschen auch über die Antidiskriminierungs-App (AnDi). 80 Prozent der Vorfälle (298) stammen von den Beratungsstellen bei Amaro Foro e.V. (DOSTA – Dokumentationsstelle Antiziganismus), EOTO (Each one teach one – Community-basiertes Bildungs- und Empowerment-Projekt ), Narud e.V. (Beratung und Empowerment für Menschen aus afrikanischen Ländern), Anlaufstelle für Dis-kriminierungsschutz an Schulen (ADAS), von Fairmieten – Fairwohnen (Berliner Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt) und der Antidiskrimi-nierungsberatung Alter, Behinderung, Chronische Erkrankung.

Die LGBTIQ*-feindlichen Beleidigungen, Bedrohungen und Pöbeleien sind angestiegen, weil zum ersten Mal die Beratungsstelle L-Support anonymisierte Fälle zur Dokumentation beigesteuert hat. Zudem hat die Analyse der Quellen ergeben, dass sich mehr Einzelpersonen in dieser Kategorie direkt an die Registerstellen gewandt haben als in den Vorjahren. Von den 75 LGBTIQ*-feindlichen Beleidigungen, Bedrohungen und Pöbeleien, die insgesamt dokumentiert werden konnten, wurden im Jahr 2021 41 Vorfälle direkt an die Register gemeldet. Im Vorjahr waren es nur 21. Die Berliner Register haben dem Themenfeld LGBTIQ*-Feindlichkeit im Jahr 2021 mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es fanden zwei Online-Veranstaltungen statt, es wurden Flyer für diese Zielgruppe erstellt und viel Zeit wurde in Netzwerkarbeit investiert. Der Effekt, dass sich mehr Menschen direkt bei den Registern melden, betrifft aber nicht nur das Thema LGBTIQ*-Feindlichkeit. In allen Kategorien hat es mehr Meldungen direkt an die Registerstellen gegeben, hier ist es nur besonders deutlich.

Rückblick

Vor 15 Jahren waren Betroffene allein mit ihren Erlebnissen. Es gab nur wenige Beratungsstellen. Dokumentationsstellen waren unbekannt. Das Thematisieren von Diskriminierungserfahrungen hatte fast immer Nachteile für die Betroffenen und es war keine Seltenheit, dass Ermittlungsbehörden den Betroffenen vorwarfen, an der Gewalt, die ihnen widerfahren war, selbst schuld zu sein. Mittlerweile hat sich das gesellschaftliche Klima verändert, angetrieben durch öffentliche Debatten und viel Engagement von politischen Initiativen und Aktivist*innen. Dass es Beratungsstellen und Empowerment-Angebote für Betroffene und nicht nur für Täter*innen braucht, ist inzwischen Konsens. Beratungs- und Dokumentationsstellen sind Orte, an denen Menschen ihre Erfahrungen, ihre Gedanken und ihre Gefühle nicht verstecken müssen, sondern auf Verständnis stoßen. Dadurch wird das Wissen gestärkt, was Diskriminierung und Ausgrenzung ausmacht und wie man sich dagegen wehren kann. Je mehr Angebote es für Betroffene gibt, desto höher steigt die Zahl der gemeldeten Vorfälle. Menschen, die Diskriminierung oder Gewalt erleben, nutzen heutzutage unterschiedliche Möglichkeiten, um das erlebte Unrecht zu verarbeiten. Manche gehen in eine Beratungsstelle, manche veröffentlichen ihre Erlebnisse in den sozialen Netzwerken, andere treffen sich mit Gleichgesinnten oder Freund*innen in geschützten Räumen und einige von ihnen melden Vorfälle an die Registerstellen. Insofern ist der Anstieg der Vorfälle in Berlin eine positive Entwicklung. Er zeigt, dass die Betroffenen sich gegen das Unrecht zur Wehr setzen und dass mehr Menschen Diskriminierung wahrnehmen, auch wenn sie ihnen nicht selbst widerfährt.

Untererfassung der Gewalttaten

Bis Ende 2020 gab es eine Praxis in Berlin, bei der das LKA anonymisierte Daten zu politisch motivierten Straftaten, die bei der Polizei angezeigt wurden, an Beratungs- und Dokumentationsstellen weitergeleitet wurden. Diese Daten enthielten das Datum, ein Motiv, einen Straftatbestand, einen Ort (z.B. Straße, Bahnhof) und eine kurze Beschreibung des Tatgeschehens. Anhand dieser Daten des LKA und der Vorfälle, die bei den Registerstellen und den Kooperationspartner*innen eingegangen sind, konnte das Ausmaß von Gewalt in Berlin beschrieben werden. Zu Beginn des Jahres 2021 wurde diese Weiterleitung von Daten eingestellt. Hintergrund ist eine neue datenschutzrechtliche Bewertung durch den Datenschutzbeauftragten der Berliner Staatsanwalt. Hier wurde die Meinung vertreten, sobald sich eine tatbeteiligte Person selbst erkennen könne durch die Beschreibung eines Vorgangs, seien ihre Rechte auf Datenschutz verletzt. Seit dieser neuen Bewertung erhalten auch Politiker*innen nur noch anonym zusammengefasste Daten. Die Berliner Polizei veröffentlicht weiterhin Polizeipressemeldungen, in denen diese Daten veröffentlicht werden. Die Pressemeldungen können aber nur eine kleine Auswahl der angezeigten Straftaten abbilden. Die nicht veröffentlichten Fälle können nicht in die Auswertung eingehen. Es gibt ein großes Interesse bei allen Beteiligten, die Datenübermittlung wieder zu ermöglichen, um genauere Lagebilder zu erhalten, bis Mitte 2022 ist allerdings keine Lösung gefunden worden.

Die einzige Kategorie im Jahr 2021 mit gesunkener Zahl sind die gewalttätigen Angriffe. Ihre Anzahl ist auf 294 zurückgegangen, nachdem sie 2020 noch bei 372 Vorfällen lag. Meldungen in dieser Kategorie stammen aus unterschiedlichen Quellen, vor allem aber aus Veröffentlichungen der Polizei. Ein Austausch von anonymisierten Daten findet zudem mit ReachOut (Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt) und anderen Beratungsstellen statt. Presseartikel, Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken und Menschen, die sich direkt an die Registerstellen wenden, sind ebenfalls Quellen dieser Vorfälle. Dass die Zahl der Angriffe sinkt, auch wenn alle anderen Kategorien gestiegen sind, liegt an der Untererfassung für 2021 (siehe Kasten S. 6).

Segen und Fluch – die digitale Kommunikation

Die Bedeutung der Kommunikation im Internet, über soziale Netzwerke, Messenger und Kommentarspalten hat in den vergangenen 10 Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Waren es in den 2010er-Jahren Facebook-Seiten, mit denen viele Menschen in den Bezirken schnell erreicht werden konnten, haben sich die Kommunikationskanäle verändert. Mittlerweile sind Twitter, Instagram, TikTok und der Messenger-Dienst Telegram für die Mobilisierung der extremen Rechten und für den Protest dagegen unerlässlich. Durch die Covid19-Pandemie wurden die Dynamiken verstärkt, die aus der Kommunikation im Internet entstehen. Die endlose Fülle an Wissen im Netz, ständig aktualisierende Timelines, neue Follower, Likes und das Teilen von Inhalten überfordern viele Menschen. Die Wahrnehmung von Inhalten kann nur selektiv erfolgen und deshalb besteht die Gefahr, in sogenannten Filterblasen hängen zu bleiben.

Im Jahr 2020 hatten sich verstärkt Menschen im Internet zu Wort gemeldet, die von Rassismus betroffen waren. Unter den Hashtags #wasihrnichtseht oder #ichbinkeinvirus teilten sie ihre Erfahrungen. Im Jahr 2021 berichteten fast alle Registerstellen davon, dass sich zunehmend Betroffene melden, die das vorher noch nie getan haben.

Da das Internet für alle Menschen gleich funktioniert, konnten Corona-Leugner*innen, Querdenker*innen, Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen und Impfverweiger*innen nach dem ersten Jahr der Pandemie im zweiten ganz und gar in eine Welt aus Falschinformationen, Panikmache und Antisemitismus ein - und abtauchen. Die extreme Rechte konnte dieses Potenzial an Menschen nicht für die eigenen Zwecke nutzen. Sie hat zwar inhaltlich zur Radikalisierung beigetragen, aber die Akteur*innen der Corona-Proteste sind zu divers und ihre Motivationen unterscheiden sich zu stark von den Zielen der extremen Rechten, um sich von ihnen allein mobilisieren zu lassen.

Mit dem Jahr 2022 wird die Covid-19-Pandemie nicht verschwinden, aber mit der Verfügbarkeit der Impfung und dem Aufheben der meisten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sind die Proteste sichtbar kleiner geworden. Einige Kanäle, die sich sonst der Falschinformation in Bezug auf die Pandemie gewidmet haben, sind aktuell damit beschäftigt, den Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

Der Jahresbericht mit allen Artikeln kann hier heruntergeladen werden.

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