Beitrag des Registers Spandau zum Jahresbericht 2021 der Registerstellen
Der Bezirk
Der Bezirk Spandau liegt am westlichen Stadtrand und hat knapp 250.000 Einwohner*innen. Der Ortsteil, der den gleichen Namen trägt, stellt das Zentrum des Bezirks dar und ist mit der U-Bahnlinie 7, der S-Bahn und der Regionalbahn an die Innenstadtbezirke Berlins angebunden. Hier ist der Sitz der Verwaltung und tagt die Bezirksverordnetenversammlung, auch viele Behörden wie das Jobcenter und Sozialamt befinden sich in diesem Ortsteil. Die größte Fußgängerzone Berlins schafft mit zwei Straßenzügen, dem Marktplatz und Rathausplatz viele Einkaufsmöglichkeiten sowie Begegnungs- und Veranstaltungsorte. Neben der beschaulichen Altstadt verfügt der Bezirk auch über Ortsteile wie Staaken oder das Falkenhagener Feld, die vor allem von ihren Hochhausiedlungen geprägt sind und über solche wie Kladow, in denen Einfamilienhäuser und Grünflächen das Stadtbild dominieren.
Anstieg von Vorfällen resultiert aus Propaganda und struktureller Benachteiligung
Im vergangenen Jahr wurden mehr Vorfälle an die Registerstelle im Bezirk erfasst. Sie stiegen auf 112 an (2020: 98). 2021 konnten durch zusätzliche Mittel aus dem Fonds zur Unterstützung von Betroffenen politisch-extremistischer Gewalt Stunden und Personal des Registers Spandau erhöht werden. Dadurch war es möglich, auf Social Media präsent zu sein und das bezirkliche Netzwerk zu erweitern. Neue Betroffenengruppen − Kinder und Jugendliche sowie Schwarze Menschen − wurden erreicht und drei weitere Anlaufstellen konnten gewonnen werden. Außerdem kamen 2021 berlinweit neue Kooperationspartner*innen hinzu, (z. B. die Berliner unabhängige Beschwerdestelle BuBs). Durch die zusätzlichen Meldungen aus den Beratungsstellen der Antidiskriminierung stieg die Zahl Fälle struktureller Benachteiligung im Vergleich zum Vorjahr (2021: 18; 2020: 7). 15 dieser Fälle waren rassistisch motiviert, in 3 Fällen wurden Menschen mit Behinderung benachteiligt.
Häufigste Vorfallsart mit 39 Vorfällen und 35 % der Gesamtzahl war − wie 2020 − Propaganda (Sticker, Flyer oder gesprühte Botschaften) der extremen Rechten (2020: 45%). Fast die Hälfte dieser Vorfälle diente der rechten Selbstdarstellung und stammte von der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“. Die Aktivitäten der Partei nahmen im Bezirk zu. In der ersten Jahreshälfte konzentrierten sich deren Propaganda-Vorfälle auf die Altstadt Spandau, ab Mitte des Jahres wurden die meisten Sticker aus dem Ortsteil Staaken gemeldet.
Verbalattacken, also Bedrohungen, Beleidigungen, Pöbeleien stellten mit 33 Vorfällen 2021 die zweithäufigste Vorfallsart dar und haben damit fast wieder das „Vor-Corona- Niveau“ erreicht. 2020 ließ sich der Rückgang dieser Vorfälle durch die eingeschränkten Öffnungszeiten bei Beratungs- und Bildungsangeboten infolge des Lockdowns erklären. Entsprechend hatten die Lockerungen 2021 zu mehr Publikumsverkehr und zu erweiterten Öffnungs- und Beratungszeiten von Kooperationspartner*innen und Anlaufstellen geführt. Dies brachte mehr Meldungen.
Während 2020 die höchste Anzahl an Angriffen (21) seit 2014 erfasst wurde, sank ihre Anzahl 2021 auf 15 und lag damit noch hinter den Vorfällen von struktureller Benachteiligung (18). Das Motiv der meisten Angriffe (11) war Rassismus, ein Angriff war antisemitisch motiviert und 3 Angriffe betrafen politische Gegner*innen. LGBTIQ*-feindliche Angriffe wurden 2021 nicht dokumentiert. Der Rückgang der rassistischen und LGBTIQ*-feindlichen Angriffe ist darauf zurückzuführen, dass es keine Daten der Polizei für 2021 gibt (siehe Kasten S. 6). In ganz Berlin gibt es deshalb weniger dokumentierte Körperverletzungen. Angriffsorte waren der öffentliche Nahverkehr, öffentliches Straßenland sowie das nahe Wohnumfeld oder sogar das eigene Grundstück (s.u. „Jagow 15“). Auch 2021 waren Minderjährige von Angriffen betroffen: So wurden am 23. Dezember eine 41-jährige Frau und ihr 14-jähriger Sohn am späten Abend in einem Bus im Ortsteil Falkenhagener Feld von einem unbekannten Mann rassistisch beleidigt. Als sich der Sohn schützend vor seine Mutter stellte, wurde er vom Täter mit der Faust ins Gesicht geschlagen.
Unter den Motiven bleibt Rassismus das stärkste
Nicht nur die Angriffe, sondern sämtliche Vorfallsarten waren vor allem rassistisch motiviert. Seit Einrichtung der Registerstelle bei GIZ gGmbH 2014 ist Rassismus damit das häufigste Motiv der dokumentierten Vorfälle, mit ansteigender Tendenz (2021:57, 51 %; 2020:46, 47 %; 2019: 38, 40 %).
In die Kategorie Rassismus fließen Fälle von Anti-Schwarzem, antimuslimischem Rassismus und antiziganistische Vorfälle ein. 2021 wurden neben Rassismus allgemein erstmals mehr Fälle von Anti-Schwarzem-Rassismus verzeichnet (2021: 14; 2020: 5) als antimuslimischem Rassismus (2021: 11; 2020: 17), was allerdings damit erklärt werden kann, dass einer der Kooperationspartner, der antimuslimischen Rassismus erfasst, keine Vorfälle übermittelt hatte. 6 der rassistischen Vorfälle waren antiziganistisch motiviert.
Nach Rassismus als Motiv folgen rechte Selbstdarstellung (18 %), die leicht zurückging und gegen politische Gegner*innen gerichtete Vorfälle (11 %), die sich im Vergleich zu 2020 von 6 auf 12 Vorfälle verdoppelten. Der Wahlkampf 2021 zu Bundestag, Abgeordnetenhaus und BVV trug zu dem Anstieg bei. 9 Vorfälle, die sich gegen politische Gegner*innen richteten das alternative Hausprojekt „Jagow 15“ (s.u.) im Ortsteil Spandau.
Tatorte der Vorfälle 2021
Die meisten Vorfälle wurden für den Ortsteil Spandau dokumentiert (53, 59 %), der das Zentrum des gleichnamigen Bezirks darstellt. Hier begegnen sich viele Menschen oder haben Kontakt mit Behörden, so dass es zu Beleidigungen und oder strukturelle Benachteiligungen kommen kann. Auch die einzigen größeren Plätze des Bezirks, der Marktplatz und Rathausvorplatz, liegen hier und werden für Demonstrationen und Veranstaltungen (z.B. die „Montagsspaziergänge“) genutzt. Die Fußgängerzone ist die beliebteste Strecke um Sticker der extremen Rechten anzubringen.
Angriffe auf Hausprojekt „Jagowstr. 15“
Neun Vorfälle betrafen das alternative Hausprojekt „Jagow 15“ in der Neustadt. Die Vorfälle begannen im Januar mit einer Schmiererei am Haus und eskalierten zu zwei Brandanschlägen im April, bei dem Menschen Rauchvergiftungen erlitten und es zu erheblichem Sachschaden kam, gefolgt von einer Bombendrohung. Im Juni gab es noch eine Beschädigung an einem Banner am Haus. Der oder die Täter*innen sind bisher nicht bekannt. Die Bewohner*innen der „Jagow 15“ betrachteten die Vorfälle als eine Serie, mit der sie als politische Gegner*innen adressiert wurden. Diese Einschätzung wurde von vielen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im Bezirk geteilt, so dass im Mai 2021 eine bezirksweite Solidaritätskundgebung mit Teilnehmenden aus ganz Berlin veranstaltet wurde.
Querdenker*innen und „Montagsspaziergänge“
Auch in Spandau gab es 2021 eine Querdenker*innen-Demo mit „Captain Future“ und ca. 800 Teilnehmer*innen, auf der NS-verharmlosende Plakate gezeigt und die Pandemie-Maßnahmen mit der Judenverfolgung in der NS-Diktatur verglichen wurden. Ein Mitglied der Kladower Ortsgruppe von „Eltern-stehen-auf“ führte den Demonstrationszug an. In den Lautsprecherdurchsagen wurde der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen mit dem Recht auf Widerstand gegen Diktaturen begründet.
Als Widerstandskämpfer*innen inszenierten sich auch die Teilnehmer*innen der seit November 2021 stattfindenden „Montagsspaziergänge“. Während der Demonstrationen durch die Altstadt Spandau wurde vom Lautsprecherwagen das Geläut der Friedensglocke des Rathaus Schöneberg mit dem Freiheitsschwur abgespielt. Das Glockengeläut stand während des kalten Kriegs in West-Berlin symbolisch für den Kampf gegen Diktaturen.
Nach den „Montagsspaziergängen“ wurden NS-relativierende Sticker mit „Judenstern“ und anderen NS-Vergleichen entlang der Route entdeckt.
Anlaufstellen in Spandau
Anlaufstellen sind soziale Einrichtungen wie Beratungsstellen, Familienzentren, Bürgerbüros oder politische Initiativen, die gut im Kiez vernetzt sind. Betroffene vertrauen den Ansprechpartner*innen dort und berichten von ihren Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen. Mit dem Einverständnis der Betroffenen werden diese Vorfälle dann anonym an die Registerstelle weitergeleitet, damit sie Eingang in die Chronik finden und sichtbar werden. Gerade in einem Flächenbezirk wie Spandau mit sehr unterschiedlichen Ortsteilen und einem Zentrum, sind Anlaufstellen wichtig, um Betroffene erreichen und Vorfälle aus allen Ortsteilen erfassen zu können. Die inzwischen 17 Anlaufstellen konnten sich 2021 bei zwei von der Registerstelle initiierten Treffen austauschen und wurden in Workshops zu „Hate Speech“ bzw. „Rechte Codes und Symbole“ qualifiziert, die auch offen für andere Netzwerkpartner*innen waren.
Dadurch wurden die Mitarbeiter*innen von Anlaufstellen sensibilisiert und entdeckten selbst Schmierereien und extrem rechte Sticker im Kiez, die sie dann an das Register meldeten.
Das Register Spandau hat 2021 drei neue Anlaufstellen in Hakenfelde und Kladow gewinnen können. Damit gibt es in 6 der 9 Ortsteilen Anlaufstellen, es fehlen noch welche in Haselhorst, Siemensstadt und Wilhelmstadt. Interessierte können sich an register.spandau@giz.berlin wenden.
Gründung des Netzwerks Demokratie, Toleranz, Respekt und Vielfalt in Spandau
Als Reaktion auf die „Montagsspaziergänge“ und Querdenker*innen wurde auf Initiative der Partnerschaft für Demokratie Spandau, des Kirchenkreises Spandau, des „Bündnisses für Gesundheit, Solidarität und Demokratie Kladow“ und des Registers Spandau ein Netzwerk für Demokratie, Toleranz, Respekt und Vielfalt in Spandau angeregt, dessen Gründung im Frühjahr 2022 stattfand. Im Bündnis haben sich mittlerweile 20 Akteur*innen aus dem Bezirk zusammengeschlossen.
Beispielvorfälle
30. März 2021
Sticker der extrem rechten Kleinstpartei „Der III. Weg“, die für eine Demo am 1. Mai mobilisierten, wurden an Mülleimern an der Heerstraße entdeckt, entfernt oder überklebt.
Quelle: Stadtteilzentrum Obstallee/ Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V.
1. Mai 2021
Im Kiez um den Lutherplatz in der Neustadt (Ortsteil Spandau) wurden Flyer der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ in Briefkästen entdeckt. In einem Flyer wurden Frauen direkt angesprochen, „Sicherheitstipps“ gegeben und es wurde unterstellt, dass Frauen in der Umgebung von Unterkünften für Geflüchtete sexuelle Gewalt durch Asylbewerber drohe. Im zweiten Flyer wurde ein Zusammenhang von erhöhter Kriminalität und der Gewährung von Asyl hergestellt und zur Einrichtung von Bürgerwehren aufgerufen.
Quelle: Bürger*innenmeldung/ Quartiersmanagement Spandauer Neustadt
1. Juni 2021
Zu einer muslimischen Frau in der U7 machte ein Mann die antimuslimische, rassistische Bemerkung: „Hier ist Deutschland und nicht Kopftuchland.“
Quelle: Outreach Mobile Jugendarbeit in Spandau-Mitte
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